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Roman-Ausschnitte (zum Anlesen)


STIRNRUNEN
oder
Kann das Rotkehlchen sein Lied vergessen?

. Halt! Wenn es sein sollte, daß Sie den Punkt am Anfang als etwas anderes gedeutet haben, als was er gedacht war, so kann ich Sie leider nicht daran hindern, doch hinten anzufangen, um möglicherweise den Knüller vorwegzunehmen; aber gerade das wollte ich Ihnen ersparen, denn ich beginne ohnehin mit dem Ende. ...............


Denn wie im Nu war alle Pein hinweggeblasen, wenn ich auf seinen Knien saß, die immer von einer kühlenden Leinenschürze bedeckt waren, denn was er so trieb, hatte in vielen Fällen etwas mit solchen Dingen zu tun, die es geraten erscheinen ließen, seine feine Tuchhose zu schützen.
Meist war es so, daß alles, was er vor sich aufgebaut hatte, zunächst meine völlige Sprachlosigkeit hervorrief. Das war selbst für meinen Großvater, Jakob Bokker, eine erstaunliche Reaktion, war ich sonst mit meinen sechs Jahren um kein Wort verlegen und galt sogar als Naseweis, der allem und jeglichem Geheimnis seine Enttarnung vorausschnabulieren mußte. Aber bei diesen Besuchen war es immer erst einmal ganz still im Gehäus, wie gesagt, bis auf den einen Satz.
Das nächste Ritual ging von meinem Großvater aus: Er hob mich von den Knien und räumte alles in seinen Schrank, der für mich aus unermeßlichen Tiefen, Laden und Kästen, Schüben und Riegeln bestand und zu denen er mir strengstens eingeschärft hatte, sie niemals ohne sein Beisein zu erforschen, was bei meinem Neugierdrang auch sehr geboten schien. Mit größter Ernsthaftigkeit verstand ich denn auch dieses Verbot als Schlüssel zu allen Geheimnissen und war mir um so mehr meiner tatsächlichen Verfügungsgewalt bewußt, als daß mein strikter Gehorsam der eigentliche Schlüssel zu diesem alibabaischen Simsalabim war. ...............



... weithin über die regengepeitschte sämige Seefläche gurgelnd ging er die zweite Zeile an:
„Herr, wenn es Dir gefällt“. Mit schaurig sich überschlagender Stimme schleuderte er das erste und letzte Wort der Zeile so heraus, daß es den Anschein hatte, als wolle er sie wie herausglitschende Aaleingeweide hin über die Wasser als Opfer anbieten, um Vergebung bettelnd als sein eigenes Inneres, was Ekel und Ehrfurcht zugleich zu blutig-speichligem Rinnsal vermischt. Er wechselte wohl auch die Liedzeilen und mischte aus anderen Liedern welche mit hinein, aber wenn er sich schon in diesem Abgrund befand, dann ließ er wahrhaft inbrünstig nichts aus, was sich tief am Rande seiner Seele faserig eingegraben hatte und schwemmte alles wie erbrochen Bruchstückhaftes an die Oberfläche. Meist torkelte sein Gesang zu Ende in der Zeile:
“...so spanne mich doch aus“, kam er doch in ihr in ständiger Wiederholung auf die Spur eines besänftigenden Ostinatos, in dessen kräfteerlahmender Dynamik er endlich ein kindliches Einschlummern finden konnte, so daß sein schlammtiefer Schmerz im Schlaf endlich Ergebung und Vergebung fand. .................



...Mimke Bokker warf sich wie in streng ablaufendem Ritual mit ihrem weißen Leib, der Jung wie Alt in staunend oder erahnend begreifender Sinnfälligkeit von Erotik leibhaftig heilig ergriff, und hoch aufjubelnden Armen biegsam Welle auf Welle gegen die Strömung des Baches, wobei ihr bekannt metallischer Gesang mit schnellem Vibrato einer Metamorphose sich ergeben zu haben schien, die aus dem Metall gleichsam zerschmelzend ein seidiges, aber glühendes Band von strömender Melodiehitze entfließen ließ, die sich nun mit dem Element Wasser wundersam nixisch verschwisterte. Mimke unterbrach nämlich ihr Singen nicht, wenn sie sprudelnd wieder mit von roggenmuhmiger Abgeklärtheit ergriffenem Gesicht ins Wasser tauchte, sondern die Melodie war weiter zu hören und perlte durch die Myriaden von Luftbläschen in ihrer Klangfarbe obertonreich verändert wie in einem anderen Hallraum klangchampagnerähnlich an die Oberfläche. Dann rissen ihre Arme sie wieder hoch und mit hell aufkeckerndem Wassergurgelgesprühe schossen Fontainen ihrer steil aufspritzenden Melodiekaskaden hin über die Wasserfläche, daß es schnalzte und ihr Lachen klirrte oder auch dumpf böllernd aus der Tiefe ihres Leibes heraufdrang und von verwegenen Rhythmen ihrer flachen Hände auf die schwarze Spiegelfläche des Baches klatschend begleitet wurden. Dabei ließ sie durch ihr silbrigblondes Haar............



... und zu guter Letzt aus einem Schlagzeuger, der zwar nur eine Große Trommel samt aufmontiertem Becken traktierte, aber dessenungeachtet alles in allem an Melodie, Harmonie und Rhythmus gleichermaßen so überzeugend konturierte, daß es weiter gar nicht auffiel, wenn die Herren von der blasenden Zunft wegen alkoholischer Insuffizienzen kurze melodische Ausfälle zu verzeichnen hatten, von den manieriert glissandierenden Posaunen ganz abgesehen, die nämlich mit dieser Technik glaubten meisterlich schlicht ihre mangelnden instrumentalen Fertigkeiten schnoddrig-jazzig überlagern zu können. Die ganze Gemeinde hatte denn auch ihren schenkelklopfenden Spaß an diesen musikalischen Zirkusnummern, weil sich nämlich im Laufe des Tages das Repertoire wegen des unaufhörlich ansteigenden Alkoholspiegels bei den wackeren Musikanten derart einschränkte, daß die tapfere Band gegen Abend, um - einem häufig anzutreffenden Bedürfnis der Volltrunkenheit gemäß - dem plötzlich im Suff auftretenden Bedürfnis nach ehrenhafter Zucht und Ordnung Nahrung zu geben, nur noch Preußisch-Militärisch-Ehernes zum Besten glaubte geben zu müssen. Das wiederum schien den Stimmungskünstlern am ordentlichsten durch ständige Wiederholung des gleichen Marsches das Gefühl einer mannhaft musikalisch übersetzten Tugendhaftigkeit und Festigkeit zu vermitteln, weswegen sie auch mit glasiger Starrheit ihrer Züge dem Ernst der Situation hofften Nachdruck verleihen zu können, als nämlich die Mädchen schließlich bei einsetzender Dunkelheit die Präsentation ihres Geschenkes verkündeten.
Somit herrschte zu dieser fortgeschrittenen Stunde eine selige Amüsiertheit, die jedesmal erneut auf unerfindliche Weise angeheizt wurde, wenn wieder und wieder das gleiche Rumstata erklang, was gleichzeitig so manchen nur noch lallenden Zeitgenossen zu aberwitzig ulkigen Bemerkungen veranlaßte, so daß die überschäumende Stimmung auf den Höhepunkt hin Purzelbäume zu schlagen begann.
In diese allenthalben wabernde Ausgelassenheit hinein baten die Mädchen mit einem gewaltigen Tusch des allbeherrschenden Trommlers um Gehör: ...........


...Wie brollerndes Feuer konnte es manchmal klingen, wenn der Windsog durchs Röhricht stob, mal auch nur schüttelten sich widerwillig die Blätterschatullen, so daß danach die Stille begann zu klingen mit einem unendlich hohen Ton, feinspinnig, aber nicht fadenscheinig. Auf diesen Einsatz wartete Janna, hier begann ihr Duett. Ihre Stimme schlängelte sich wie ein Flößorgan hindurch durch das kontrapunktische Geflecht des zarten Windschwallblättergespinstes, als ob sie jemanden zu erreichen trachtete, den sie aus weiter Ferne herzubitten ließ, der beschworen sein wollte in seiner Unhörbarkeit, daß er ihre inneren Ohren öffnen und sie so auf ihn antworten könnte. Diesen irisierenden Ton nahm Janna auf und sponn ihn, lauter lockigen Fäden gleich, aus ihrem Mund hin über die Wasserfläche, so daß es wie ein unwirkliches Rufen erscholl. Drängend und inständig bittend kreiselten die Linien über die quecksilbrige Haut des Wassers, unterbrochen durch kiebitzartige Flötenjauchzer, die sie mit ihrer schon als kleines Kind erfundenen Rückwärtssingtechnik zu einem permanenten Klangereignis verschmolz und in ihrer regelmäßigen Wiederkehr der Inständigkeit Nachdruck verliehen. Dann wieder wechselte sie ihre Tonlage und brachte dumpf trommelnd bauchige Röhrlaute aus sich heraus, so daß man den Eindruck gewinnen konnte, daß jemand anders noch am Gesang beteiligt sei. ............





...So mußte er sich mit der stummen Tastatur begnügen. Diese äußerst spartanisch anmutende Art und Weise, ein Instrument zu erlernen, erwies sich bei ihm als die erblühende Tugend aus der Not. Sich einen Ton vorzustellen, hieße als Blinder, sich eine Farbe vorstellen zu müssen mit dem Unterschied, daß die hier verordnete Taubheit wenigstens durch seine eigene Stimme ein wenig aufgehoben werden konnte, so daß sich einem heimlichen Zuhörer ein seltsam gespenstisches Klappern mit Solostimme geboten hätte, dessen Melodie sich einfach zu keinem musikalisch erahnbaren Zusammenhang hätte fügen lassen, denn sowohl das eigenartig geschäftige Klappern des Tastenorchesters auf Manual und Pedal als auch die suchende Stimme des Organisten nach den richtigen Intervallen, namentlich in den Nebenstimmen, ergaben nun mal keinen erkennbaren Sinn. Zudem gewann die ganze Szenerie um so mehr an Totentanzähnlichem, wenn eine sich dann allmählich hereinschleichende Dämmerung im Kirchenschiff die Schatten, die durch die einzigen zwei Kerzen neben dem Organisten im Gestus von Takt und Rhythmus über seine Arme, seinen Kopf und gar im Winter über seinen durch die Kälte sichtbaren Stimmatem verursacht wurden, in ihrem Flackern in unbeschreiblicher Behendigkeit die Säulentürme auf- und abhuschen ließ und diese Schattengeister gar manchmal am Gurtgesims übermütig über die Decke zu hangeln schienen. All dies hielt Arnold Fried nicht davon ab, statt Gänsehaut ein fröhliches Hüpfen seines Herzens zu vernehmen, denn je mehr er die einzelnen Stimmen isoliert von den anderen zusätzlich zu singen vermochte und, nur durch das stoische Klappern seiner Tasten begleitet, in sein Gedächtnis aufnahm, um so einprägender vermochte er nach und nach, sich allein anhand des Notenbildes ein hörbares Ganzes vorzustellen und dadurch in der Tat durch diese Not der zeitweiligen Stummheit des Instrumentes damit begabt wurde, Musik lesen zu lernen. ..............


...Das Schlimme war, daß der aufgeweckte Bengel aus dem heimlichen Getuschel der erwachsenen Verwandtschaft schnell sich seinen Reim gemacht hatte, war er doch dem Anschein nach das Opfer des bedauerlich so frühen Verlustes seiner Mutter, woraus für ihn ganz sinnfällig seine Unschuld an der Verhaltensmisere zu ziehen sei und fühlte sich durch diese bemitleidenden Überlegungen mehr denn je herausgefordert und ermuntert, von solchermaßen wohl naturgegebenen Mißgebildetheit ordentlichen Kredit zu fordern.
Das begann noch einigermaßen harmlos damit, daß er als kleiner Bub jedweder Verweigerung durch den Vater oder durch seine älteren Geschwister, ob sie nun sinnvoll war oder nicht, ob notwendig oder unangebracht, zunächst einmal mit überaus vehementem Gebrüll begegnete, so daß die gesamte Familie sehr häufig in einen Lähmungszustand von Hilflosigkeit geriet, die zudem zwischen der bangen Ahnung einer schweren Erkrankung des Kindes und der entnervenden Vermutung reiner Schlitzohrigkeit des geriebenen Knäbleins hin und her schwankte. Bald lernte er, dieses Spektakel noch im entscheidenden Augenblick durch aufsehenerregende Aktionen zu steigern wie etwa blitzschnelles Schlagen auf den Löffel in Spinat oder Suppe, oder, wenn ihm irgend etwas quer kam, ein brüskes Armradieren vom Schoß weg eines seiner lieben Gönnerinnen aus der bemitleidend gluckenden Tantenschar rundum über die erreichbare Tischplatte mit einem im wahrsten Sinne des Wortes umwerfenden Effekt auf die aufgebaute Weingläserarmada, und nicht nur die, so daß die gesamte zu feierlicher Gelegenheit eingeladene Diner-Gesellschaft wie auf Kommando - und es machte sich am wirkungsvollsten, wenn alle im feinsten Feiertagszwirn gewandet waren - wie von der Tarantel gestochen aufsprang, weil jeder durch die heftigen Spritzer in allen Essens- und Getränkefarben um seine Robe bangte und durch dieses nicht steuerbare, unwirsche Gebaren noch zusätzliches Umstürzen produzierte. So entstand unweigerlich wie berechnet das perfekte Skandalchaos, bühnenreif und unvergeßlich.
Alles schrie gestikulierend und das Schlimmste an auslaufenden Flüssigkeiten mit der Tischdecke zurückhaltend durcheinander, so daß Karl in aller Ruhe in die Unaufmerksamkeit der allgemeinen Verwirrung unterm Tisch ganz unbehelligt dem nachkriechen konnte, was ihm über dem Tisch verweigert worden war. Sollte es glückhaft auch noch etwas sein, was ihn in einen beschwipsten Zustand versetzte, war anschließend das überspielend blöde Amüsement der Erwachsenen über die drollig tolpatschigen Torkelagen des kleinen, ach so niedlichen Karlchens, Stimmungsausgleich genug, so zu tun, als ob man den verheerenden Zwischenfall schon vergessen habe. ..............


...„Und was Du zuzumuten pflegst“.........Unterbrechung: Jetzt gar scheinen sich die Tore der Orgelgeisterwelt zu öffnen und wie ein Phantom aus der Flasche quillt und rauscht das gewaltige Orgelmonstrum mit seinem Klangatem in extreme Lagen und versteigt sich in fremde Tonarten, die wirklich eine ungeheure Zumutung hören lassen. Erschrocken, fast entgeistert starren die kleinen Schulmäuse gegen das Orgelpfeifenheer, aber begreifen wohl dennoch intuitiv, daß hier das Fremde, das Unerwartete, das Nicht-Ausdenkbare, gar Unerhörte seinen Platz haben muß, wie soll sich die Zumutung sonst durch die Musik ins Ohr wühlen?
Die letzte Zeile hebt an: „...das ist getrost zu wagen.“..........Pause. Fast schon ducken sich einige in Erwartung eines noch größeren Klanggewitters. Aber sie hören beruhigende, beschwichtigende, fast tröstende Melodiebögen mit sehr weich fließenden Akkordbindungen, die schließlich wie selbstverständlich und gleichmütig in die bekannte Choralmelodie ihres Liedes einmünden. Leise wie im Nachsinnen schwebt die einfache Melodie noch einmal an ihnen vorbei und im Nachhall verdämmert der letzte Akkord wie ein Weihrauchschwaden im bäuerlichen Chorgestühl.„Booo,..... kann der spielen!“ tuschelt es durch die Reihen, und im Verlassen der Kirche ist nun keine Staumauer der Disziplin mehr in der Lage, das Überlaufen ihrer Herzen zu verhindern,................


...Die drohend in Hilflosigkeit stürzende Schwärze einer nahen Ohnmacht samt dem Einpeitscher des pochenden Daumens helfen ihm, seine Tränen nicht mehr geübt zurückzuhalten, sondern sich aufgebend in die Flut dieses reißenden Stromes stürzen zu lassen. Seine Rundumwahrnehmung erkennt dabei sein eigenes Ringen mit dem behindernden Wollen und dem schenkenden Lassen. Es reißt ihn mit sich fort, erströmt sein Nachgeben, umspült fast werbend sein Sich-Ergeben und schüttet einen warmen Schwall von Erkennen mit in das Neuwerden, so daß ihm das unwirklich scharfe Bild wie ein noch unschlüssiges Kurzschlußflackern zwischen Positiv und Negativ eines Films hin und her wechselt, bis das Traumbild in ihm sich entschließen kann, dem Erwachen Platz zu machen, ohne Gefahr zu laufen, die Botschaft zu vergessen.
Mit langsam nachlassendem Schmerz stellt sich auch ein erlösendes Von-ihm-Abgleiten ein, so als ob eine Haut von der Hitze des Feuers verbraucht an ihm herabsänke, aus deren Umhüllung, die ihm eine schlierige Sicht beschert und seine Ohren mit pelziger Taubheit überzogen hatte, er nun mit unerhörten Ohren und ausersehenen Augen auftauche. ..............


...Der große herrschaftliche Wohnsitz der Familie flankierte die eine Schmalseite der Lichtung und wies mit seiner Front wie präsentierend auf die langen Werkschuppen der Verarbeitungsstätte, an deren Ende das fauchende Ungetüm der Gattersäge mit wuchtiger Geschäftigkeit seine stählernen Pleuelarme schwang und mit beängstigender Unerbittlichkeit die Buchenstämme aus dem Hürtgenwald durch seine gefräßigen Sägebarten schlang. Eine düstere Rauchfahne hing über den Wipfeln und weil damals noch niemand etwas von Umweltverschmutzung wußte, wertete man mit jovial stolzer Nachsicht den fremdartigen Gestank aus Ruß und verbranntem Öl eher als den neuen Schweißgeruch der modernen Technik, als daß man versucht gewesen wäre, diesem Umstand Abhilfe zu schaffen. Ständig waren um den Koloß herum mehrere Männer damit beschäftigt, aus Ölbüchsen, groß wie Milchkannen, die geifernden Ventile und prustenden Gestänge in ihren Führungen zu begießen, so daß aus einer großen blechernen Wanne, in der der raspelnde Minotaurus kraftstrotzend stand, durch ein Rohr ein ständiges Rinnsal hinüber in einen schwärzlichen Teich floß, in dem sich der vertresterte Ölabsud sammelte, der mit schleierig dwelendem Rauch umflort wie das finstermatt-schläfrig dämmernde Auge eines lauernden Ungeheuers trübfarben die sich bauschenden Rauchkaskaden der Maschine am Himmel widerspiegelte. Jedesmal, wenn die Feuerbüchse des Kessels geöffnet wurde, tobte ein Brüllen über den Platz, das von der nahen Waldflanke wie von einer Felswand zurückgeworfen wurde, so daß beim Öffnen des Feuerschlundes durch die Anzahl dieses Urweltgeräusches sogar die Arbeitszeit bemessen wurde. ..........


...daß eine solche Begüterungsdemonstration dem bescheidenen Paar nicht so recht zu Gesicht stehen wollte. Aber allem Anschein nach nahm die am bewegenden Hochzeitsereignis teilnehmende Dorfbevölkerung nicht Anstoß an diesem etwas überschießenden Stolzgebaren des Sägewerkbesitzers, sondern man verbuchte dieses noch ungewöhnliche Accessoire anwachsenden Wohlstandes als aufdämmernde Vorfreude auf einen mächtig herbeigesehnten Zuwachs an Situiertheit und Prosperität, an dem ein jeder glaubte in absehbarer Zeit teilhaben zu können. Daß erst einmal in nicht weiter Zukunft die Völker mit den neu gewonnenen technischen Errungenschaften in einer blasphemischen Hau-drauf-Euphorie nationalistischen Anspruchs- und Berechtigungsdenkens aufeinander losschlagen würden, war zu dem Zeitpunkt noch in zu jungfräulichen Schuhen, als daß man die Siebenmeilenstiefel des Unheils schon hätte heranrumpeln hören können. ............



...Sage man doch nicht, daß die Großeltern prüde gewesen seien, daß sie etwa stockbeinig und altmodisch ihre Ansichten gelebt hätten. Das abgeschirmte Augenzwinkern gehörte eben zum internalisierten Selbstverständnis katholischen Gehorsams oder Ungehorsams, wie man’s nimmt. Dennoch gebar es nicht so ohne weiteres ein reifendes Verständnis für die späteren Generationen, die sich vielleicht nicht mehr dieser doppelbödigen Gläubigkeit versklavt sehen wollten, sondern in - für die Alten - natürlich brüskierender Offenheit und auch entlarvender Rücksichtslosigkeit die Ungereimtheiten pastoraler Doktrin an den Pranger stellten.
Bei Corvins Mutter später, die nicht Katholikin war, aber um diese Verquerungen verquaster Frauenlustverdrängungslehren einer zynischerweise berockten Männerkirche als Lutheranerin wußte und durchaus darin schon kritisch die uralten Kompensationsversuche einer selbstverschuldet pervertierenden Verklemmtheitsgeilheit zu erblicken im Stande war, schmolz jochlos diese heuchlerische Maskerade immerhin schon zu einem verhalten herausplatzenden Kichern hinter vorgehaltener Hand zusammen, wenn die unbefangenen kindlichen Erzählungen über die lustige Maiandacht erlebnisfrisch am Abendbrottisch aufs weiße Tischtuch kleckerten, so daß Corvin, plötzlich intuitiv einen Braten riechend, drängend fragte:
„Was ist, Mutti, warum lachst Du, warum lachst Du, komm sag schon!“..............


... Da sieht sie den kleinen Vogel wieder und ihren Bräutigam tief unten im Milchsee. Sie rudert hoch oben gemächlich im Kirchengewölbe, dem kleinen Sänger gegenüber, der sich mit seinen spindeldürren Beinchen keck auf einer Orgelpfeife reckt und sein Kehlgefieder leicht spreizend aufgestellt hat. Sie kann auch beobachten, daß der Organist, während er lächelnd und mitfühlend versucht, eine auftaktgebende dominantische Funktion hinauszuzögern, von tief unten im Milchsee dem Vogel da oben wieder und wieder aufmunternd zuruft: „Sing Dein Lied, ja.......... nun sing Dein Lied!“ Aber das Rotkehlchen reckt nur seine spindeldürren Beinchen und spreizt sein Kehlgefieder, aber beginnt nicht sein Lied. Lächelnd zieht Arnold Fried ein anderes Register, intoniert eine andere Einleitung mit anderen Akkordfarben und anderen Motiven, läßt die ostinaten Rhythmen mehr sanfteren Linien weichen, nähert sich mehr einer Dur-Tonalität über hinauszögernde Quartsextakkorde, deren Wartestellung zwar durch ausweichende verminderte Septakkorde verlängert, aber nicht über Gebühr strapaziert werden kann und somit bald unausweichlich in den auslösenden Dominantseptakkord kippen wird. Um so drängender und fast schon hilflos ruft der Bräutigam seinem rotkehligen Instrumentalisten zu: „Sing Dein Lied, ach, so sing doch Dein Lied!“



...Denn sehr deutlich spürte Katharina auch, daß die Männer insgesamt sich wesentlich schwerer taten, sich ihrer gesellschaftlich einmal anerzogenen Attitüden zu entledigen, etwa meinen zu müssen, den Part des Hannemann-geh-Du-voran-Syndroms bei jeder gerufenen wie ungerufenen Gelegenheit aus dem Hut zaubern zu müssen. Hinzu kam noch, daß gerade ihr weibliches Denken reichlich ketzerischer Natur war in einer Zeit, in der man eigentlich noch kaum in irgendwelche Zweifel zog, was des Mannes und was der Frau sei. Katharina jedoch hatte früh gelernt, weil sie jäh aus ihrer Kinderwelt in die der noch unausgegorenen, aber damit auch unvoreingenommeneren Erwachsenenposition gezerrt worden war, was nämlich praktikabel und was nicht, im Gegensatz zu, was erwartet oder nicht erwünscht war. Wer hätte ihr erklärend vermitteln können, was an patriarchal verbogenen Sichtweisen damals nun einmal zu denjenigen einer Frau zu gehören hatte, wenn sie gleichsam unkommentiert neutral von ihrem Vater sowohl ein ordnendes Eingreifen wie sein unüberlegtes Poltern, sein inkonsequentes Nachgeben wie sein starres Beharren, sowohl ihren Rock als auch die Hosen ihrer Brüder kennen lernte. Sie zählte somit nicht zu jenen heranwachsenden Frauen, die es gewissen Doktrineinpeitschern leicht gemacht hätten, rüde Vereinnahmung als zustehend ureigenes Lebenselixier der Männer rechtfertigen zu wollen, weil es nun einmal so war. .............



Da wich diese Angst wie ablaufendes Wasser. ............
... Mit dem steht sie auf, wendet sich Arnold Fried zu, der stumm hinter ihr an den Türstock gelehnt gestanden hatte und nunmehr über ihre Schultern hinweg im Spiegel ihren zierlichen Po und vor sich wie unwirklich ihre Brüste sieht, und umschlingt ihn feengleich und raunt ganz weich und wie in Verzückung:
„Und jetzt - - - und jetzt ist es mit einem Mal ganz ohrenstill, wie wenn dem Dämonenorchester die Saiten gerissen. Die rollen und schnurren sich auf und spinnen und weben am Faltenrock, der wie Honiglicht süß zwischen die Blumen kriecht. Und jetzt - - - und jetzt, wenn es ganz augenstill, ruckeln die Bilder, wie wenn ihnen die Verschuppung aus den Gesichtern fällt, und dahinter erglüht es wie Amethyst und Malachit, wie Larimar und Tigereisen, wie Chrysopras und Rubin, wie Karneol und Lapislazuli.
Wie schön, ha, ha, ha....”, und wirft schüttelnd vor Lachen ihre Locken nach hinten, irr und weise: „Wie aufreizend unpassend! Ist das nicht wunderselige Zauberei?“

Die Verschmelzung der beiden ungleichen Skulpturen am Türrahmen löste sich lange nicht, und während er dann wie von einer fernen Erinnerung ergriffen sich auf den Stuhl setzte, wo eben noch astral schimmernd die Engelgestalt gesessen hatte, schlüpfte sie lautlos in ihre Hüllen und stand nun mit ihrem innigen Silberfadenlächeln ihm gegenüber am Tisch.
„Wo bist Du, mein lieber Mann?“ raunte sie zärtlich ihm zugewandt. ...............



...Corvin konnte sich an dem nicht satt sehen, und so hatte er sich mit einem alten Brett die Vorrichtung geschaffen, auf dem Rücken liegend den Kopf in die Röhre zu schieben und so in aller Seelenruhe das Nirgendwo betrachten zu können. Seine spannendste Entdeckung jedoch bestand darin, dem Nirgendwo einen Ton entgegenzusingen. Es mußte ein ganz bestimmter sein, den er durch sirenenartig gleitendes Singen sicher finden konnte, wobei er seinen Mund zu einem oval-offenen „o“ formte. Dann glaubte er, das ganze Nirgendwo zum Klingen bringen zu können. Dazu kam eine weitere Entdeckung: Er hatte von Anfang an den Eindruck, daß ihm das Nirgendwo, wenn er versuchte, es mit seinen Augen zu erfassen, etwas in die Augen streute, ganz wenig, aber so viel, daß er die Augen besser schloß. In dem Augenblick erst begann der Ton mit ihm durch die Röhre langsam nach oben zu steigen, körperlos, dem Nirgendwo entgegen. Komisch, sonst war oben immer der Himmel, aber da oben war tatsächlich das Nirgendwo. .............



...Entscheiden taten zunächst andere, und zwar solche, denen Blut und Boden wahrlich heilig war. Das Heilige bestand darin, daß das Magma des Krieges mit düster glühendem Teer die Menschen auf ihrem sonst so vertrauten Boden tückisch mit klebriger Zunge einfing, sie noch im hoffnungsvollen Fluchtgedanken verzischen ließ wie eine Stichflamme und all ihr gellendes Schreien völlig ungerührt in einem letzten Atemzug aus ihren Lungen preßte, um sie, hübsch anzuschauen, als untertänig gebeugte Fackeln die Schneisen des Todes ausleuchten zu lassen.
Der Vernichtung kündende Geruch nach verbranntem Gummi, Teer und Fleisch, das Bersten und Stürzen im Sirenengeheul, die unsäglich entsetzlichen Todesschreie in ihrem barmherzigkeitslosen Andauern, durch die die Ohnmacht der Hilflosigkeit, dem Wahnsinn nahe, grinsend brüllte:
„Stirb endlich, verdammt noch mal, so stirb doch endlich!“.............da starb dann dieses Heilige unter den noch Lebenden und manches andere auch.
Corvin war mitten drin, der kleine Bub, mit seinen zweieinhalb Jahren und hatte schnell das Vokabular des Schreckens gelernt:.............



...Das Phänomen, gänzlich ungefragt und steuerungslos in diese Welt geschleudert zu werden und sich nach Jahren der Bewußtwerdung sozusagen wie aus dem Unermeßlichkeitspool als Lottokugel in einer menschgewordenen Konstellation von Zufälligkeiten entweder in glückhaft bewahrten Umständen oder auch in denkbar ungünstigsten wiederzufinden, ist unantastbares und unhinterfragbares Ereignispotential eines jeden Menschen. Gott sei Dank liegt nun in dieser vermeintlich zur Ungerechtigkeit neigenden Vorherbestimmtheit nicht der Schlüssel der Qualität von Leben, sondern er gewinnt personifiziert erst nach und nach an geformter Manifestation, indem er sich, durch welche Fähigkeiten auch immer, zu einem Ergreifen der in seinem Potential verborgenen Chancen entschließt oder eben nicht entschließt. Dieser Entschluß ist allerdings kein punktueller, sondern ein sich ebenfalls allmählich stabilisierendes Gefallen oder Gewißsein am Einschlagen eines bestimmten Weges. Die Langwierigkeit dieses Vorganges läßt gelassen Zeit für die Unerschöpflichkeit von Möglichkeiten, sich jeweils auf dem gerade erreichten Teilstück so einzurichten, daß rückblickend entweder eine vielgestaltige Landschaft entstehen konnte oder daß man sich eben eingestehen muß, daß es zu einer Verwüstung geführt hat. Aber in dieser wie benachteiligt erscheinenden Situation eröffnet selbst die Wüste eine weite Bandbreite von Leben. So etwa als einem schlichten Überleben, das gewiß in sich nur wenig Motivation frei macht, nicht schon mit dem geringst möglichen Erfolg zufrieden zu sein, oder eben als einem Leben, das die Hand ausstreckt, das sich gleichsam neugierig vorrobbt, trotz aller Widrigkeiten. Corvin spürte ständig diese Neugier, und obwohl sich ihr häufig genug Schmerzhaftes in den Weg stellte, auch solches, was durchaus seinen Zorn hervorrufen konnte, so ließ ihn das Vorwärtsdrängen doch schnell und bedenkenlos alle Zurückhaltung vergessen, selbst wenn es nur darum ging, vielleicht lediglich einer geckenhaften Schimäre aufzusitzen.

Was wußte er schon? .............

...Anna-Margareta hatte ihrerseits mit dieser Frage nicht die geringsten Probleme, hätte sie doch auch erstaunt sein können, daß ihr Vater sie nicht nach etwas Hörbarem fragte: Sie ließ sich nicht aus dem Bild werfen.
„Jetzt zerfließt es....... über grün nach blaurot.............und wieder ganz gelb, ganz gelb!“ quietschte Anna-Margareta ganz verzückt und drückte den etwas sperrigen Kopfhörer noch fester an ihre Ohren, um noch weiter ihre Augen aufreißen zu können.
Sie hatte gesagt, es klingt gelb. Das hieß, sie hörte etwas Sichtbares oder das, was sie hörte, war für sie sichtbar, verwandelte sich in Farben.
Jakob Bokker nahm staunend aber nicht fassungslos wahr, wie sich aus seinem angebotenen Wunder der Verwandlung von Unhörbarem als einem aus dem stummen Nichts über Schwingungen elektromagnetischer Impulse sich formenden Tonsignal ein weiteres Wunder zu entrollen schien. Diese unsichtbare Gestalt des Tones wandelte sich bei Anna-Margareta in eine weit ausladende sichtbare Farbpalette, die sich wie eine Landschaft vor ihren Augen auszubreiten schien. .............


...Anna-Margareta Bokker in einem gedeckt roten Jackenkleid mit breitem Kragen und Revers, die beide mit einer Hohlbiese an den Rändern weiß abgesetzt waren, darüber einen schwarzen Samtmantel mit grauem Pelzbesatz um Kragen und Knopfleiste bis unten hin, dazu einen modisch schwarzen Hut mit Schleier und knallrotem Schal und halbhohen ebenfalls schwarzen Stiefeln. Wenn auch Handtasche und Muff zu den normalen Accessoires einer jungen Dame der dreißiger Jahre gehörten, so hatte Anna-Margareta aber statt der Handtasche eine Kombination aus Handtasche und flacher Notenmappe in dunkelrotem Veloursleder umgehängt, in der sie immer außer ihrer Gesangsliteratur auch einen Skizzenblock und flachen Malkreidekasten mit sich führte.
Carolus Fried wirkte dagegen etwas unausgesuchter, um nicht zu sagen, etwas eilig zusammengestellt mit dem, was er trug: Der Trenchcoat war zwar im Trend, aber er schien den Gürtel vergessen zu haben, das Blau seiner Hose wollte nicht so recht zum Khaki seines Mantels passen, zu dem allerdings die etwas schäbige Tasche. Den Hut hatte er immerhin fesch aufgesetzt, aber der schien etwas zu groß zu sein, weil womöglich ausgeliehen, weswegen sein linkes Ohr lustig etwas abpiekste.
Insgesamt jedoch war er ein ansehnlicher, junger Kerl, dem das dunkle Haar nur deshalb nicht zu tief in die Stirn wuchs, weil seine Augen lichterloh brannten und seine Nase, die er selbst despektierlich als Zinken bezeichnete, holzschnittartig seinem Gesicht den unbeugsamen Willen einschnitzte, den seine Erscheinung umgab. ...........




...Dieses Instrument stellte einen erheblichen finanziellen und noch einen bedeutsam schwerwiegenderen ideellen Wert dar, denn es war das letzte bewegliche, wenn auch fast unbewegliche, Geschenk der Eltern an ihren Sohn Carolus Fried gewesen. Sehr verständlich, daß an dem Flügel so viel an Erinnerungen, an Ansporn und Zukunftsperspektiven hingen, daß er wie die Kroninsignien elterlichen Vermächtnisses unmöglich im Stich gelassen werden konnte und etwa Gefahr hätte laufen können, einer betrunkenen Soldateska als Lustobjekt entehrender Revolverspielchen anheim fallen zu können oder vernichtenden Sprengbomben ausgeliefert zu sein.
Wenn sich an dieser Stelle eine gewisse Mitleidlosigkeit einstellen sollte, so ist sie durchaus berechtigt, denn mit dem archaischen Rechtsverständnis eines >Mitgegangen,Mitgehangen< ließe sich durchaus argumentieren. Wieweit allerdings die einzelne Ameise auf dem Gartentisch darauf einen Einfluß hat, daß jemand den Tisch in den Schatten trägt, ist weder an der Ameise noch am Tisch festzumachen, sondern einzig an der dritten Kraft, die da am Werke ist. Wenn die Menschen damals nicht ein Volk von permanenten Mea-culpa-Klopfern werden wollten, die in dieser Form jeglicher Art von Initiative beraubt worden wären, dann muß es erlaubt sein, ein Denken nicht als heuchlerisch zu brandmarken, das dem Ist-Zustand ins Auge schaute, denn das Gestern ist wenig geeignet, das Heute zu bewältigen, wie alle Wenn- und Aberüberlegungen weder der Ameise noch dem Tisch helfen könnten, den Schatten nicht etwa zu beseitigen, sondern lediglich zu ertragen.
In diesem Falle war besonders das Handeln gefragt, denn die dritte Kraft ist ein austauschbar Ding, ob Gut oder Böse, ob Schicksal oder Gott, ob Tod, ob Teufel, ob Ideologie oder Religion, ob Freiheit oder Unfreiheit, Jugend oder Alter, alle insgesamt sind Herausforderungspotentiale, unseren eigenen Standort, unseren eigenen Standpunkt, unser eigenes Denken und Handeln zu überprüfen, für uns offenzulegen und zu handeln.

Ein solch dreibeiniges Wirkgemenge bewegt sich weder durch Denken noch durch Überprüfen oder gar Offenlegen, sondern einzig und allein durch Handanlegen. ............


...Die Erzählungen der beiden Frauen am abendlichen Küchentisch eröffneten der versammelt lauschenden Hausgemeinschaft nicht nur Beschwerliches und Entbehrungsreiches, Unverschämtes und Beängstigendes ihrer Reise, sondern auch Erheiterndes, denn im nachhinein scheint so manche bedrohliche Situation, wenn sie ihrer Bedrohung entkleidet und der sicheren Seite nichts mehr anzuhaben vermag, in die Komik zu fliehen, um daraus heuchlerisch eine Verharmlosung zu nähren, die das mißlungene Böse braucht, um nicht entlarvt entblößt zu stehen. ............



...Adelheid brachte lange Zeit damit zu, sich mühsam, fast schon qualvoll in ihrer gravierenden Bewegungsunfähigkeit durch diesen Basaltbruch an Gestapeltem zu graben. Erst recht beim Entziffern, denn Großvater hatte noch in Sütterlinschrift geschrieben. Aber die gerade damit verbundene Mühe ließ sie um so mehr in eine fiebrige Entdeckerlaune geraten, denn die somit erzwungene Langsamkeit ließ ihr inneres Gedankenwandern auf eine nahezu stillstehende Meditationsgeschwindigkeit herabsinken, was dazu beitrug, sich unbewußt der fast unbeweglichen Dynamik einer unendlich langsamen Zeitlupengesundung raumgebend hinzugeben. Zudem hatte sie sich der penelopeischen Arbeit unterworfen, Buchstabe für Buchstabe mit der rechten, gelähmten Hand unter Anleitung der linken die ihr liebsten Denkzettel in ihre Schrift zu übertragen, so daß sie sie immer und immer wieder ganz flüssig und ohne Anstrengung lesen konnte. Hierin schuf sie sich ein animierend stärkendes Bewährungsfeld von Mühsal und Erfolg.
Das war nämlich die eigentlich zynische Herausforderung der Ärztin gewesen: ‚Wille und Intelligenz sind etwas Bewegliches. Versuchen Sie doch mal, damit das Unbewegliche zu bewegen’, hatte sie boshaft süffisant den letzten Schlag beim Abschied versetzen wollen. Gekränkte Eitelkeit führt schrecklich hinterhältige Waffen.
Sollte sie die Dreistigkeit besessen haben, auch nur eins von beidem an ihr bezweifelt zu haben? Oder sollte sie ihr ganz einfach zu verstehen gegeben haben: Das schaffst Du nie!?
Aber schon seit einiger Zeit hatte sich diese Brodelenergie in den Hintergrund zurückgezogen und lieferte Adelheid von dort, nach außen hin unbemerkt, ununterbrochenen Nachschub an einem inzwischen zur Gelassenheit mutierten Beweisen.



...So subtil im Falle von Corvins Vater die Verrohung durch den Krieg sich ihm im Fleisch verhakt hatte, so sehr bekämpfte er fast aussichtslos das späterhin ihm bewußt werdende Unvermögen des Zeitgebens, des unverstellten, drucklosen Zeitnehmens für eine Hingabe ohne Bedingungen. Wie sehr mußte die erbarmungslose Kriegshydra erst solchen Menschen zugesetzt haben, die weiß Gott Schlimmeres zu verkraften hatten, als auf irgendeiner Schreibstube zu sitzen, zwar zum Teil erbärmlich zu hungern, aber zwischendurch sogar für eine Promotion beurlaubt zu sein und im übrigen, aufgrund pianistischer Fähigkeiten, auf sich gestellt, während des Krieges sein Leben sogar retten zu können. So war Carolus Fried zwar kurz in russische Gefangenschaft geraten, konnte aber mit seinen klavieristisch-musikalischen Rundumbegabungen selbst der Willkür eines sturzbetrunkenen russischen Generalstabs mit seinen barbusigen Wollustweibern noch zusätzlich derart betäubende Begeisterung überstülpen, daß sie ihm Tarnkappe genug war, im rechten Augenblick des Trunkenheitskomas der inzwischen solchermaßen randalierenden Offizierskohorte zu entwischen, daß sie dazu übergegangen war, die umfangreiche Schallplattensammlung der requirierten Privatvilla eines deutschen Industriellen zu seinen aufheizenden Chopin-Polonaisen und mit Vaterlandsstolz überquellendem Tschaikowskyschen Geschwindmarsch, improvisatorisch mit russischen Gassenhauern kombiniert, zu den jeweils rhythmischen Schwerpunkten wie beim Tontaubenschießen mit ihren Revolvern gleichsam standrechtlich zu liquidieren. Nicht nur, weil wegen ihrer Trunkenheit alles Deutsche unbesehen es wert war, vernichtet zu werden, sondern weil die hilflos durch die Luft segelnden Schallplatten in ihrer schellackenen Zerbrechlichkeit genau das Leichtgewicht repräsentierten, an dem sich der unbändige Haß in seiner Wucht besonders wirkungsvoll artikulieren konnte. Aber einen Feind in Gestalt eines um sein Leben spielenden Chopin- und Tschaikowsky-Rasenden, der sich offensichtlich nicht der deutschen Werke bediente, sondern sogar noch Russisches wie fraternisierend einfließen ließ, den vergaßen sie als Feind....



...Um sein schillerndes Gewand noch deutlicher zu belegen, vermag es noch in anderen Bedeutungskostümen zu erscheinen, im Sinne von ‚etwas ändern, gänzlich in anderes verwandeln’ wie in ‚umfärben, umpolen, umtopfen, umpumpen oder in umkrempeln, umformen, umtaufen, umstimmen und umdeuten’.
Ganz anders wirkt das ‚Um’ bei ‚umwenden, umgehen, umsehen und umschauen’. Hier nötigt es mich fast zu einer Bewegung, nämlich einer Rückwärtswendung, einem Richtungsändern.
Es kann aber auch eine Drehung, ein Von-unten-nach-oben meinen wie in ‚umpflügen, umwenden, umgraben, umgreifen und umschalten’.
Selbst sogar ein diffuses In-alle-Richtungen vermag dieses ‚Um’ an Bedeutungsfacette in sich zu verbergen, wie es in den Wörtern ‚umtreiben, sich umtun, sich umhören und sich umhorchen’ herauszuspüren ist.
Und letztlich kann diese Vorsilbe ein Aus-der-Normalität-stürzen, ja sogar ein düsteres Zu-Fall-bringen, ein Töten und Sterben meinen wie in den Wörtern ‚umwerfen, umkippen, umfallen und umhauen, umnieten, umlegen und umkommen’.
Wenn das alles so an mir vorbeizieht, kommt es mir so vor, als ob die Frage, wie ich mit jemandem ‚umgehe’, tatsächlich diese bedeutsame Vielfalt unausgesprochen und verborgen, aber dennoch befragend zum Schwingen bringt und damit einem Gegenüber wie auf einem unsichtbaren Tablett einen sensiblen Gewissenskatalysator reicht, der allerdings nur bei demjenigen eine Reaktion auslösen kann, der seinerseits die erforderlichen Reaktionspotentiale in sich birgt. Selbst einem pfiffigen Hund kann ich hundertmal eine duftende Rose hinhalten; er wird zwar untertänig daran riechen, aber mehr wird ihm daraus nicht erwachsen. In schwelgende Verzückung geriete er sicherlich nicht. .............



...Einer der Ärzte gab nach der Schlacht um das Leben von Mutter und Kind linkisch entschuldigend zu verstehen, daß von tausend Frauen eine einzige mit einem eklatanten Horrortrip auf das Präparat Dolantin reagiere, leider habe es seine Frau eben getroffen, dabei habe man sie nur für die Nacht ruhigstellen wollen, damit dann am nächsten Tag genügend Ärzte anwesend sein könnten. Er log und verschwieg, daß es nicht eine von tausend, sondern zwei von zehn Frauen trifft und daß es ihnen dabei gleichzeitig wohl auch einerlei war, daß dadurch ebenfalls die Atmung und die Temperaturregulierung des Neugeborenen in Mitleidenschaft gezogen würden.
Ja, ja, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, ist wohl einer seiner begabtesten Verführungssprüche: Es sieht so wissend-elegant nach Hilfeleistung aus, und damals gab es noch nicht diesen emulsionseloquenten Feigenblattsatz: „Bei Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie....!“
Warum denn, wenn der Arzt daneben steht?
Gut, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Gewinnlermaxi heiß! ..............



...Man flieht in die Kirche oder man flieht die Kirche“, auf diesen cleveren Nenner hatte früher Adelheid in ihrer Spottdrosselzeit ihre gesammelten Provokationen gebracht und über die keuschen Weihrauchbeutelergüsse der erzbischöflichen Merkwürden gewitzelt, was denn dann ihrem Vater entschieden zu weit ging und deshalb in diesen Fällen frecher Desavouierung mit erboster Drohgebärde gerne die Ehrwürdigkeit der großväterlichen Überzeugungstradition glaubte als Argument in die Debatte werfen zu können. Dabei war zumindest die Ehrwürdigkeit halbiert, weil nämlich die andere Seite der großväterlichen Tradition zumindest mit anderem Rock verkleidet war. Jakob Bokker und somit seine Tochter waren nämlich Protestanten, was zugestandenermaßen einem vom Rheinländer eher als finster und wortkarg eingestuften Ostfriesen besser zu Gesichte stand und gehörten solchermaßen wohl zu denen, die die Kirche flohen. Soweit, so gut in den Augen von Carolus Fried. Aber daß dann für ihn wohl kaum etwas anderes übrig bleiben sollte, als zu denen gerechnet zu werden, die angeblich in die Kirche flohen, um dort ganz wohlgemut ihr böses Sündelein im Waschzuber des bußsakramenteten Beichtstuhls bleichen zu lassen, wie Adelheid es aufrührerisch nannte, um anschließend persilscheinausgerüstet wohlgemut den Heiligen zu spielen, das ging dann doch nun endgültig zu weit und der größte Familienkladderadatsch war vorprogrammiert.
Daß eines Tages mitten im schwelenden Streit Corvin auftauchen würde und mit der Neuentdeckung, daß Gott nicht wohne in Tempeln, von Menschenhand gebaut – und dabei noch gezielt die Streitaxt des Wortes Gottes in die Debatte schleuderte, indem er erkenntnisgewiß hinzufügte : Apostelgeschichte 17, Vers 24, daß Corvin mit dieser Neuentdeckung der Debatte eine gänzlich neue Richtung geben würde, damit hatten nun die Ehrwürdigkeiten der einen wie der anderen Überzeugungstradition nicht gerechnet. Die Reaktion war zunächst einmal ein Verstummen, wie die Stille vor dem Sturm. Aber der Sturm kam nicht.
Zunächst nicht. .............



...„Nur zu“, ermunterte ihn der Großvater, „wie begründest Du Deine Vermutung, daß erstens Gott nichts anzuhaben sei und er zweitens aller dieser Dinge nicht bedürfe?“
Konzentrierend kniff Corvin seine Augen zusammen und senkte seine Stimmdynamik, um damit seine Erregtheit in den Griff zu bekommen.
„Erstens: Ihm ist nichts anzuhaben, weil er auch ohne uns einfach – ist. Das ist zwar eine Behauptung, die sich aber meines Erachtens deutlicher denn je in den Erkenntnissen großer Geister seit Jahrtausenden dergestalt als Faktum ausmachen läßt, daß die Menschen, je deutlicher sie dem Stein der Weisen glaubten näher gekommen zu sein, - womit sie blasphemisch gedachten, diesem Gott das Heft aus der Hand nehmen zu können, den Turmbau zu Babel kennt jeder! - um so deutlicher eröffnete sich ihnen statt der Endlichkeit, sprich Überschaubarkeit und Erklärbarkeit, eine um so unermeßlichere Unendlichkeit. Das heißt, je mehr sie an vermeintlichem Mehrwissen anhäuften, um so deutlicher staute sich ihre Erkenntnis an, nichts zu wissen. Das ging nicht erst mit Sokrates los! Nun, mit dieser Erkenntnis stoßen wir folgerichtig zwar schnell an unsere Unbedarftheit und an unsere kreatürliche Endlichkeit, aber damit auch an das Phänomen des Geschenkes der Unendlichkeit in der Potenz des menschlichen Geistes und seiner Spiritualität, denn allein das Energieerhaltungsgesetz ist fast schon Garant für diese asymptotische Annäherung an eine göttliche Ewigkeit. .........



...Beim Eintritt in diesen kleinen, hutzeligen Laden, in dem die Nachmittagssonne durchs seitliche Fenster versonnen dumpfig über den Linoltresen fingerte und die olivgrüne Schubladenwand von Zeit zu Zeit museal zu stöhnen schien, hatte sich Kilian, der keineswegs ein ängstliches Kind war, ein wenig abwartend an Papas Hand gedrückt, denn auch die Luft im Raum saß still im Sessel, so daß das Warten hier zum Meublement gehörte.
Dann nach einer Weile mit einem Mal gewahrten die beiden ein Schlurfen, das den Blick auf das dunkle Türloch zog, das sich in der Schubladenwand auftat. Und mit dem schiebt sich, ein wenig gebückt, eine hünenhafte Gestalt durch den Rahmen, richtet sich auf und erfüllt mit ihrer schlohweißen Mähne und einem gewaltigen Schnauzbart den Tresenraum, als ob sich die Wand dahinter schüchtern verkleinern wollte, stützt sich auf den Ladentisch, beugt sich langsam vor und spricht dann aber mit unvermutet fipsig brüchiger Stimme Kilian an:
„Na, Du kleiner Mann, wat ham’mer denn?“
Dem Raum scheint die stockende Stille fast ein Räuspern abzunötigen, denn Kilian weicht nicht verzögernd aus, um nichts zu sagen, sondern die Urgestalt des alten Schmieds spürt offensichtlich, wie seine Frage in dem kleinen Jungen arbeitet und wartet mit seiner vierschrötigen und dennoch zerbrechlichen Gestalt hingebeugt auf ihn, seine Augen fragend ausgerichtet und den Mund wie antwortversessen geöffnet, wartet und wartet, bis Kilian entschlossen vortritt, wieder sein Prophetenfingerchen ein wenig verhält und dennoch mit sprühendem Mund, aber erbarmenden Augen hervorbringt:
„Du bist alt...“ – und hierbei nickt er verständig und schnappt kurz nach Luft -
„Du stirbst bald “
Mit allem hatte Corvin wohl gerechnet, nur nicht mit dem; und daß dahinter irgendwie der Punkt fehlte. Und während er noch unbeholfen überlegte, wie er diese zweifelsohne absichtslose Unartigkeit herunterspielen sollte, richtet sich der Hüne bedächtig auf, sucht bewußt ein Aushärten von Versteinerung in seinem Gesicht mit einem verlegenen Zucken seiner Wange zu verhindern, läßt wie nach innen blickend seine Augen tief in ihre Höhlen sinken und sagt mit tonloser Stimme, als ob sie mehr lauschte, denn spräche:
„Da mags’ de Recht haben...... kleiner Mann“, nickt versonnen abwesend und wischt mit



...Ist das nicht vergleichbar dem Rotkehlchen-Lied, unverwechselbar und eindeutig, es ist, wie es ist, ohne Erinnerungsverlust?
Zweifellos etwas ganz anderes als unsere Sprache. Die haben Tausende von Generationen durch ihren Mund und Verstand gehen lassen und so mancherlei Veränderungen bewirkt.
Was also macht die unverwechselbare Modulation aus, die eingebrannten Zeichen, die Erkennungsmelodie, das rote Fädchen, die Runen hinter unserer Stirn, die Augen und Ohren des Herzens oder das lebendige Wasser der Seele?
Tja, nur der wird darauf eine Antwort finden, der damit beginnt und keine heimlichen Bedenken hegt, dies Lied zu singen. Und wer dann dieses Lied singt, der wird sich in dem Augenblick nicht mehr daran erinnern müssen, weil er in sich die Tür zum Immerwährend, als ob seit je geöffnet, einfach findet.
So einfach, einfach so. Wie immer schon.
Umsonst.
Das ist die Vermutung. .............



...So widerfuhr ihm mit anwachsender Häufigkeit, daß er vermehrt Menschen begegnete, denen es nicht einmal mehr auffiel, daß sie gestern dieses, aber heute jenes vertraten, behaupteten oder unterstützten. Es war manchmal so, als ob sie die eigenen Gedanken von gestern wie Austauschobjekte ansahen, die heute den Status des unverbraucht Neuen dem Gestern gegenüber bereits verbraucht hatten und morgen schon auf eine adjustierbarere Kompatibilität hin kalibriert erscheinen sollten.
Auch mußte er in seiner Generation erst einmal damit fertig werden, daß jetzt nun vollends damit aufgeräumt werden sollte, daß die ältere Generation wie in früheren Zeiten sich nicht mehr mit gewissem Stolz und Selbstbewußtsein als die erfahrungsweitergebende und als die in die gängigen Techniken eingeübtere erweisen konnte, sondern es kam auf mancherlei Gebieten sowohl für die Jugend als auch für ihre Elterngeneration zu bisher unerlebten Überlagerungen von Kompetenzüberschneidungen, die leicht zu dem Bewußtsein auf beiden Seiten verführten, das jeweilige Gegenüber entweder als Grünschnabel zu bändigen oder als Grufti zu diskreditieren. Es war die gleiche Zeit, in der all die vielen despektierlichen Bezeichnungen und Sprüche, namentlich an die ältere Generation adressiert, entstanden, wobei sich die öffentlichen Medien gerne, wie so oft, wetterwendisch zumindest verbal als die Jungen darstellten, im Innern der Funkhäuser jedoch trotz des Neuerungsdrucks mehr zur konservativen Bewährtheit auf hohem Standard tendierten. Auch hier die Münze mit dem Januskopf.
Also letztendlich doch nichts Neues auf der Welt!?
Doch, es gab etwas Neues! .................


...Dem gegenüber allerdings steht seine Nutzung als ein elegantes Informations- und Kommunikationsinstrumentarium - so wie die Tarnkappe auch die Tat des Bösewichts verhindern helfen kann - das allen Unkenrufen zum Trotz vermag, durch die Offenheit oder Öffentlichkeit des Internets den Wert der Privatheit des Einzelnen zu fördern und zu bereichern.
So hatte sich Corvin Fried in einem berufsbezogenen Gesprächsforum zu einem bestimmten Thema geäußert, das sein Einmischen herausgefordert hatte, denn selbst innerhalb einer vermuteten akademischen Gesprächsklientel verführt dennoch der Tatbestand der weitgehenden Anonymisierung nicht selten zu einer beispiellosen Biertischargumentationsschludrigkeit – um das Unwort proletarischer Ruck-Zuck-Primitivismen zu vermeiden - , der Corvin einfach widersprechen mußte, als er sie las.
Daß sich daraus eine ungeahnt besondere Freundschaft entwickeln würde, zudem zu einer jungen Frau und Kollegin, das hatte er weder geahnt noch geplant. .................



...So stellte sich nach und nach heraus: Kaarinya war verheiratet, erwartete ein Kind, aber signalisierte aus all ihren Sprachporen, daß sie sich als ein Als-ob-Single in einer hermetisch verriegelten Kammer in ihrem Kopf eingerichtet hatte und dort alle ihre Vorlieben, ihre Träume und Wünsche, alle ihre Pläne und Gedankenpakete, aber auch all ihr Erinnerungsweh wie in einem ordentlich sortierten Archiv eingelagert hatte.
Aus ihrem unerwartet aufgestöberten Versteck spiegelte Kaarinya mit der sanften Sprachgeste einer unsicher beschwichtigenden Hand den Grad ihrer inneren Unruhe wider und empfand sich dabei gleichzeitig von eigenartig unbekannter, aber ebenso uneingestanden ersehnter Wärme umfangen, als sie sich wie wehrlos dem diffundierenden Ausloten Corvinscher Sezierfähigkeit lediglich durch ihre und seine Sprache samt ihren Tentakeln und Antennen ausgesetzt fühlte. In eins erschrocken als auch angezogen fand sie dennoch zu einer Offenheit dem fremden Mann gegenüber, daß sie wie in Trance die Schlösser ihres geheimen Gelasses vorsichtig von ihm lösen ließ, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nur vage ahnen konnte, welche Herausforderungen in Zukunft in ihrem geheimen Türrahmen erscheinen würden.Mit diesem ersten, unerwarteten Geburtstagsbrief stand Corvin dann wie der Rapunzelprinz in ihrer Kammer... ...................



...Nun, ich glaube, ich habe inzwischen etwas zugelegt, und aus diesem Zugewinn nährt sich meine Freude an der Kommunikation mit Dir. Natürlich sind da auch andere Färbungen, kann plötzlich das bisher Ungesagte sagbar werden, weil die Notwendigkeit des Sagens früher nicht gegeben war oder ist. Erst Du schaffst sie, Deine Unverwechselbarkeit ist Fakt, wie schön. Dein süßes, kleines Kindelein, was seine Mami schon seit vielen Monaten hört und kennt (Joachim-Ernst Berendt: "Ich höre, also bin ich"; tolles Buch, mußt Du lesen!), hat gerade erst seine Herzenskammern ausgebildet, und dennoch ist es bereits unverwechselbar. Wem wird es ähneln, wer wird ihm Ahne sein? Verstehst Du jetzt, wieso ich nichts mit dem Begriff "Kopfleben" insofern anfangen kann, weil ich der Meinung bin, daß die Ebene, auf der wir uns hier bewegen, eine Herzebene ist, eine Ebene der Erweiterung, der Bereicherung von Leben, ein kreatürliches sich dem Sosein des anderen Zuwenden.
Das Sich-zu-Worten-Formen meiner Gedanken ist vielleicht etwas verwirrend ausgefallen, verzeih' meine sprachliche Unversiertheit in dieser Sache, sag ich sie doch so auch zum ersten Mal. In anderer Weise hab ich sie schon oft gesagt, da bin ich geübt mit der lauernden Gefahr des Routiniers.
Es gibt kaum Schwierigeres, als die Sprache im Gegenüber des Du zu verändern. Das schafft man nur über Umwege. Vielleicht schaffe ich es über Dich und Du über mich, wenn Du denn in Deinen Jahren das sich anbahnende Defizit schon in der Lage bist zu identifizieren.
Dein Satz "Wer hört zu?" ist mir - nicht in der vordergründigen - aber in der weitgeschwungenen Bedeutungsbucht Deines Gesamtwesens all die Tage durch den Kopf gegangen. Was mag er besagen? Da wage ich noch keine Deutung. ................



...mal wie durch plötzlichen Stillstand der Wasser sich langsam durch eine Brunnenspiegelfläche zu splittern beginnt, wobei ihr Gesicht, unnahbar ruhend in seinen geschlossenen Augen, dann wieder wie in goldöligen Schlieren mit seinen Konturen spielt, sich nicht scheut vor fratzenhafter Verzerrung und zurück in die engelgleiche Ebenmäßigkeit gleitet.
Corvin war es wie verwehrt, sie zu erkennen, weil sie nicht ihre Augen öffnete, wobei es ihm wie eine fesselnde Bedingung auferlegt schien, daß einzig und allein sein Erkennen im Öffnen ihrer Augen gelegen hätte und sich ausschließlich hier das Geheimnis um die Person bannte. Diese Bildergaukeleien gingen soweit, daß Corvin, als er eines Morgens erneut mit dieser Erinnerung aufwachte, sich vorsichtig hinüber zu seiner schlafenden Frau wandte und sie anschaute, wie sie da lag mit ihren geschlossenen Augen. Und wie er sie ganz atemverhalten still betrachtete, schlug Thekla mit einem Mal die Augen auf, wie wenn sie jemand gerufen habe, war ganz verwirrt durch den aufmerksamen Betrachter, und während sie sich schnell besann und Corvin wie erlöst umschlang, spürte er erst recht die seltsame Lust des Traumbildes, ihm das Öffnen seiner Augen zu verwehren, stumm und blicklos. Und dennoch war es, als winke sie ihm insgeheim, doch hinter die Augen zu schauen, hinter die Schale einer anderen Wirklichkeit, die nicht mit Augen zu erfassen war. Woher kannte er diese Frau? Warum glaubte er sie zu kennen?... und erkannte sie doch nicht? ................


...Hierbei rollten die Augen hinter den Lidern des Nomadenmannes heftig hin und her, beruhigten sich dann, wobei er sich wohlig lächelnd und mit genußvoll kostenden Lippen aufrichtete, wie wenn er etwas Wunderseliges zu überbringen habe:
„Als er nun gerade anhebt, seine ersten zarten Tonfransen wie unabsichtliche Kehlübungen hinzukullern, dabei noch wieder aufmunternd zum kecken Knicksen ansetzt und seine süße Melodei wie ein feingliedrig ziseliertes Goldkettchen hinwimmert, da rutscht mit einem Mal der ganze riesige Dünenrücken samt all seinen Brüdern und Schwestern ein wenig in sich zusammen und ein weithin ziehendes Geräusch von schwelgend erlöstem Stöhnen und Seufzen legt sich dem elysischen Gesang zu Füßen.“
Die Ohren des Nomadenmannes scheinen sich wie Tücher aufzuspannen, um nicht eine einzige Klangflocke zu verlieren, verharrt atemlos nach innen lauschend und dazu blicklos.
Zuletzt, und ohne daß eine erkennbare Bewegung in ihn gekommen wäre, kündet sein Mund wie vom Ahnen her:
„Und immer, wenn ein kleiner, fremder Vogel den weiten Weg von weither hierher an diesen Ort der weiten Stille gefunden hat, sein letztes Lied mit Freuden angestimmt und dabei knicksend bis an die Brust im Dünenkamm versinkt, dann hört man dieses Singen auch der Dünen.“
Mit geschlossenen Augen hatte der Nomadenmann in gestenreicher Sprache und hingebungsvoll tanzender Mimik wie in Trance die Geschichte erzählt, oben auf dem Kamm der Düne in seinem weiten Mantel mit Hut und Stiefeln. Und sein in Gold gegossenes Gesicht mit sphinxisch geschlossenen Augen hatte noch einen Satz gesprochen:
„ ...Er ist nicht von hier....... man sagt, er hat eine rote Kehle“. .....................



...Natürlich gäbe es durchaus Alternativen, die ich ja auch in meinem offenen Brief anschneide. Die aber kosten Geld, und zwar richtig Geld. Wenn ich dieses Geld dafür auszugeben hätte, würde ich diesen Weg zumindest versuchen. Wenn ich mein lichterloh brennendes Kind vom Feuer retten will, darf ich mich nicht scheuen, es in den Fluß zu werfen, auch wenn es nicht schwimmen kann, denn aus dem Wasser könnte ich es vielleicht noch retten, aber nicht aus dem Feuer...... es sei denn, ich stehe mit dem angeschlossenen Wasserschlauch gleich daneben, dann geht es schmerzfreier und risikoloser. Dieses ganze "Dutschi-Dutschi-Kuscheltier-Getue", das so häufig in unserer ja fast schon vaterlosen Gesellschaft zur verzärtelnden Manie geworden ist (zumindest ist das bei den doppelt entwurzelten Großstadtkindern unserer Schule ganz kraß spürbar), hat sich ein liberalistisches Erziehen eingefleischt, das lediglich, und es tut mir leid, daß ich das sagen muß, Affenliebe produziert (wenn auch dieses Wort den Affen gegenüber sicherlich ungerechtfertigt ist!). Wirkliche Liebe läßt erstarken, indem sie auch fordert und nimmt nicht unbedingt das Schwierige hinweg. Wirkliche Liebe verleiht Flügel und bedauert nicht, daß man selbst am Boden bleiben muß............ und was da alles noch zu sagen wäre. Lauter Dinge, die nicht unbedingt von mir stammen, sondern von weisen Männern und Frauen unserer Spezies.
So, jetzt Schluß damit. Ich schreib Dir, was draus geworden ist. ..................



...Nur ganz selten, aber um so unvermittelter löst sich die Regungslosigkeit des schwarzen Schattens, erwacht zu einer schwachen Sichtbarkeit, so daß einem oberflächlichen Beobachter erst jetzt seine Gegenwart bewußt werden würde, dreht sich ein-, zweimal um seine Achse, als ob er sich zu einer Kugel zusammendrehen wolle, aber findet dann, in wiedererwachender Erinnerung eingebrannt, zu seinem Programm des Beobachtens zurück. Mal mag er sich bei dieser die Entspannung suchenden Aktion ein verstohlenes Gähnen erlauben, mal ist dabei auch der Ansatz eines fiependen Jaulens zur eigenen Beschwichtigung der wie in hohem Sirren angespannten Konzentriertheit zu vernehmen, aber rundherum belebt es ihn neu und bleibt so seiner belastenden Bannung mit ehrwürdigem Stolz treu. Mit gespitzten Ohren, die so gespitzt sind, als ob sie ungesehen hinübergreifen könnten zu diesem Imaginären, zieht er schon im Ungehörten das Unerhörte zu sich herüber, so daß ihm diese vage Botschaft den Stoff zu liefern scheint, dem sich auch seine Nase entgegensehnt und dabei wie im Traum versunken hin und wieder die Augen zu schmalen Schlitzen sich zusammenziehen läßt, um schaudernd in Erwartung sein inneres Bild im vorhinein genießen zu können.
Das ist seine Bestimmung, auch seine Potenz, die ihm so schnell keiner nachmacht, derer er sich auch in dieser Ausprägung, anderen Artgenossen stillüberlegen begegnend, der Anerkennung brav gewiß ist. Dieser Puls kann auch nicht anders schlagen, holt er doch daraus den metallenen Glanz seines Selbstverständnisses trotz aller realistischen Einschätzung seiner Schwächen und Lausigkeiten. In der Regel weiß er sie in ihre Schranken zu weisen. Das läßt ihn wohlgemut geradeaus schauen........auf das Gegenüber, das sich nicht aus seiner verschwimmenden Schattenumnachtung lösen will, das den erlösenden Sprung ins Licht nicht wagt, die Bewegung lieber lauschend erlahmen läßt und nur durch ein sanftes Blasenwerfen auf der schwarzsamtenen Oberfläche schwach von seinem Vorhandensein kündet.
Dennoch kündet es genug, sonst säße er nicht da. ...............



...Lust an der Morbidität, grauenhaft. Nur dieses Grauen hat Kinder bekommen und erscheint an jeder Ecke in anderen Facetten von Wirklichkeit, die sich nun als Fun-Gesellschaft in nahezu bindungsloser, vielleicht sogar bindungsunfähiger Promiskuitätseuphorie, um nicht doch banal-deutlicher von kotzalbern-pubertärer Bums-,Fick-, Freß- und Saufmentalität zu sprechen (entschuldige!), ein fast schon zur bekifft fröhlichen Normalität mutiertes kuschelig solidarisches Untergangsszenario geschaffen hat.
Ich nenne das ganz resigniert „Titanic-Syndrom-Modern“. Ich bin der Begegnung so überdrüssig!

Natürlich kann keiner mehr die unausstehlich doppelbödige Stehkragen- und Korsettmoral der vorigen Jahrhundertwende erneut heraufbeschwören wollen, aber innerhalb der neugewonnenen Freiheiten hat sich eine frische Hydra erhoben, die zynisch anmaßend von neuer Reife im Stringtanga der Selbstüberschätzung kritiklos schwadroniert, das Erotikon narzißtischer Selbstverwirklichung geil verkündet und auf diesem pillengespickten Leviathan das vermeintlich Versäumte mit zerstörerischem Nachholrigorismus, erbarmungsloser Freibeuterdreistigkeit und verantwortungsamputierter Drauf-Lust-Mentalität auf fast allen Gebieten menschlichen Zusammenlebens zu sanktionierter Unmoral geadelt hat.
Wer wagt, so etwas laut zu sagen, wird durch die wutschnaubende Auferstehung eines Heeres von Verharmlosungsstrategen, Bagatellisierungsprofiteuren, von Verständnisopportunisten und Moralstinkefingern mit automatischem Nachfolgebeschwichtigungsprogramm als Spielverderber ins Abseits gedrängt........



...Der Infekt, der in Dir sitzt, ist natürlich deutlich geprägt von einer Welterfahrung, die man/frau landab, landauf machen kann, die inzwischen, als Normalität hingestellt, unkündbar behaust ist, die sich in allen Bereichen der Öffentlichkeit als auch der Nichtöffentlichkeit so darstellt, daß man sich schlechterdings kaum etwas anderes vorstellen kann, als daß bei solcher Dichte der Beschäftigung miteinander und dem daraus sich entwickelnden Begehren nur noch ein ehebrecherisches Unter-die-Haut-Fahren und orgiastisches Ineinanderdringen als logische Konsequenz angedacht werden kann, so wie es sich alltäglich – und nicht erst ab 20:15 Uhr! – durch obsessive TV-Permanenterziehung, dabei am „Recht auf kulturelle Information“ orientiert und scheinheilig legitimiert, zur Normwahrnehmung nicht etwa nur kleinbürgerlicher Fleischeslust emporgekeimt hat.
Arme Logik, die zum einen nur dem pekuniären Gewinnsog, und zum anderen dem rein animalischen Erstimpuls zu folgen imstande ist. Fast kommt mir die Mechanik der ‚Sex and Crime’–Perpetuierung wie der selbstverachtende Masturbationszwang krankgewichster Medienmacher vor, die verzweifelt das Spüren nicht mehr spüren und somit verallgemeinernd nicht wahrhaben wollen, daß die Spirale der Luststeigerungssucht selbst einer viagragesteuerten Potenzprotzerei am Ende schlapp umknicken wird, weil sie der Statik beraubt ist, die ihr naturgemäß das Rückgrad einer maßvollen Bescheidung verleihen sollte.
Vielleicht ist es tatsächlich so, daß so vielen Menschen das in dieser Beziehung weiß Gott harmlose Gebot der Nächstenliebe deshalb verkantet im Kopf steht, weil in ihrer Amygdala mit dem Reizwort „Liebe“ wohl nur noch die Vorstellung einer penisschwingenden und vaginavibrierenden (wahrscheinlich kursieren in den Hirnen wesentlich ordinärere Formulierungen!) Facettenvariante einer schamverkorksten Libidovergeiltheit einrastet. An diesem Tatbestand trägt so manches verquaste Prüderiekonzept leibfeindlicher Provenienz aufgrund sträflich vernachlässigter Mündigkeitserziehung seine indoktrinierende Mitschuld (so nach dem Motto: ‚Wenn ich es schon nicht kriegen kann, dann sollst Du es auch nicht haben!).
Aber, liebe Kaarinya, es ist nun mal so, daß es auch andere wertsteuernde Mechanismen gibt, die ...................



...Nun denn. Aber für mich bleibt eine ganz große und sehr wichtige (Verständnis-)Frage. Ich spüre sehr wohl, daß wir einander sehr viel zu sagen haben, dies auch sehr gut können. Mit diesen Gedanken schließe ich bei einer Freundin sexuelle Gedanken aus. Bei einem Mann muß ich trennen und dies sehr bewußt. Wie geht dir das dabei, Corvin?
Nie würde ich auf die Idee kommen, mich an meine Freundin anzulehnen, ihre Hand zu nehmen. Jedoch treffe ich diese Gedanken in Beziehung zu dir immer wieder bei mir an. Es ist wirklich nicht das Bedürfnis nach Sexualität. Nein, es ist die Reihenfolge, die sich ergeben hat: Diese Briefe tun gut, sie machen mich freier, brechen Türen und Wände zu dir auf. Und ich bin froh, daß ich all dies mit dir besprechen kann, dir beschreiben kann, wie es mir mit dir geht.
Und jetzt?...

Kaarinya ............



...In diesem Falle wäre zwar ein mit solcher Wahrnehmungsfähigkeit ausgerüsteter Mensch um ein Vielfaches reicher an daraus resultierenden Einsichten und Erfahrungen, würde aber einem nur schmeckenden Zeitgenossen durch keinerlei Zusatzempfindung seine ihm völlig als ausreichend erscheinende Wahrnehmung des Schmeckens als Mangel plausibel machen können, weil es ihm an einer Vorstellung dafür fehlt, woran er diesen Mangel seiner als eingeschränkt bezeichneten Wahrnehmung überhaupt erkennen könnte.
Nehmen wir an, es gäbe also außer dem H-o-rchen, S-e-hen, R-i-echen, Schm-e-cken und T-a-sten eine solche sensorische Wahrnehmung, die sich dem offensichtlich fehlenden U-Morphem innerhalb der ansonsten ausgelasteten Vokale obiger Wahrnehmungsvokabeln mit ihrem „o“, „e“, „i“ und „a“ öffnete, dann ließe sich zumindest über das in diesem Zusammenhang neu zu bildende Wort ein Vorgang benennen, der eine neuartige Dimension von Wahrnehmung signalisierte, so wie für den Blinden das Sehen. Es könnte etwa „dulen“, „schrukeln“ oder „bufern“ heißen (und zwar meinetwegen entstanden unter der gerechtigkeitshalber ausgleichenden Verwendung der in den ansonsten gebräuchlichen Verben der Wahrnehmungen nicht oder nur selten vorkommenden Konsonanten!) und würde damit eine uns unbekannte Fähigkeit benennen, die uns in gleicher Weise ratlos aber ohne Verlustempfindung vor diesem Phänomen stehen ließe, wie den Blinden vor dem Phänomen „Sehen“. Ich habe diese etwas verwirrende Exkursion ins unausdenkbar Unausdenkbare versucht zu unternehmen, um dadurch zumindest ansatzweise die Kompliziertheit der Wahrnehmungsproblematik nachvollziehbar zu machen, ...................



...aber mein dringender Wunsch, den Traum am Leben zu erhalten, empfand ich wie einen Tanz auf des Messers Schneide, von dessen scharfer Kante ich jederzeit in die Wachrealität hätte stürzen können, aber ich wollte doch an mir sozusagen erleben, wie ich nun die "Moral" definieren würde......... Hier ist der Satz, den ich am Morgen gleich aufgeschrieben habe:
'Moral teilt oft ihr Schicksal mit dem einer Fliege: Die einen nutzen sie als zwar lästige aber dabei hämisch als naturgegebene Unabänderlichkeit, um ihren Aposteln eine dementsprechend nicht zur Disposition stehende Daseinsberechtigung zu verleihen. Die anderen schlagen sie einfach tot, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, sich wegen einer solch marginalen Unbedeutsamkeit ein Gewissen machen zu müssen. Der Wert bleibt so beiden Seiten verborgen, denn Moral ist kein Entweder-Oder-Geschäft, sondern eine bewegliche Schwester der Verantwortung.
Was sagst Du zu einem solchen Traum-Definitionsungeheuer? Abgesehen davon, daß es zunächst eine Definition ist, die besagt, was Moral nicht ist, ...............



...Streit in einer Partnerschaft ist Anzeichen kindischen „Als-ob“-Verhaltens, weil es in der Unausgereiftheit wie der eines Kindes eben die Seelentiefe der tapferen Bewußtheit wirklichen Ver-haltens, nämlich ein bedacht achtsames Stillestehen vor dem anderen, noch nicht aufweist, sondern dazu erst heranwachsen müßte. Aber gerade da lauert die Gefahr, von der ich oben sprach, die Gefahr als einer Angst vor allzu großem Ausliefern, vor dem Verglühenkönnen am anderen in seliger Erfüllung von Leben, aber eben auch vor abgrundtiefer Enttäuschung. Diesem Wagnis uns zu öffnen, hatten unsere Eltern, vielleicht die ganze Generation, nicht das Format, es uns vertrauensvoll leben zu lehren; und wir waren und sind eben noch nicht Mann oder Frau genug, um dieser.......... herausfordernden Infragestellung nicht auszuweichen. .............


...Mir ist seltsam vorgekommen, daß Schumann sein Lied ‚Dein Bildnis wunderselig’ aus seinem ‚Liederkreis’ nicht etwa ‚Dein Bildnis’ nennt oder so ähnlich, sondern ‚Intermezzo’!
Du kennst es!?“
Thekla reagiert absichtsvoll etwas alltäglich: „Als Liebeslied ein Zwischenspiel eben, vielleicht ein Seitensprung. Das gab es schon immer, leider!“
„Ich denke mir das aber anders: Mit diesem ‚Intermezzo’, diesem Dazwischen, meint er die Synkope, denn die Synkope bezieht letztlich ihre rhythmische Gestalt und Wirkung aus dem Fundament, auch wenn sie noch so schwebt.
Die Anfangszeilen des Eichendorff Gedichtes heißen doch, wenn ich mich recht entsinne:
Dein Bildnis wunderselig
hab ich im Herzensgrund,
das sieht so frisch und fröhlich
mich an zu jeder Stund

Die zweite Zeile ist die verräterische, denn so sehr sie von einem Grund spricht, beinhaltet sie jedoch das am wenigsten Lokalisierbare der ganzen Strophe: Den Herzensgrund!
Die anderen Zeilen lassen sich ganz vordergründig in einer banal-bürgerlichen Gegenwart festmachen, die jeder Konvention des Bildchens-im-Rahmen auf dem Schreibtisch oder der Kommode entspricht.
Der Herzensgrund aber ist ein imaginärer Ort, eine dem Zugriff oder dem Einblick sich versperrende Tiefunten-Ebene, ein Abgrund, gar ein Pfuhl, der sich erst noch offenbaren könnte.“
Thekla muß lächeln über das Wort ‚Pfuhl’, waren sie doch beide eben erst diesem tückischen Ort entkommen und hebt deshalb pointierend „offenbaren könnte!“ hervor ............


...Das Risiko der höheren Oktave, der anderen Freiheit: Spielraum oder Raumspiel, drei oder nur zwei Dimensionen? ................





ENDE der Schmökerstunde...